Jazzgeschichte: About Jazz
Der folgende Text über die Jazzgeschichte ist ein Abschnitt von „Ein Überblick über die Jazzgeschichte“ von Dr. Wolfram Knauer – Leiter des Jazz-Instituts Darmstadt.
1. Definition und Etymologie
Der Jazz ist eine aus dem Zusammentreffen afrikanischer und afro-amerikanischer sowie europäischer Musiktraditionen entstandene Musik vornehmlich improvisatorischen Charakters. Seine direkten Wurzeln liegen in geistlichen und sekulären Musizierformen des 19. Jahrhunderts. Der Jazz entwickelte sich im 20. Jahrhundert von einer im Brauchtum verwurzelten mehr oder weniger regional bedeutsamen Musik (New Orleans) ber seine Funktion als Popularmusik (Swing) hin zu einer Kunstmusik mit mehr oder weniger breitem Publikumsverständnis (Bebop, Free Jazz). Die unterschiedlichen Stilrichtungen innerhalb dieser Entwicklung weisen einzelne musikalische und ästhetische Charakteristika auf, die sie als Stile des Jazz identifizieren. Solche Charakteristika sind beispielsweise: Improvisation, swing (zum Unterschied zwischen Swing und swing s.u.), eine spezielle Art der Tonbildung und Instrumentenbehandlung, stilistische Individualität einzelner Musiker, sowie ein Traditionsbezug auf vorhergegangene Stile der Jazzgeschichte. …[mehr]
Der Ursprung des Begriffs „Jazz“ ist nicht ganz geklärt. Theorien nennen seine Herkunft von abgeänderten Personennamen („Jasbo“), als Ableitung aus fremden Sprachen (beispielsweise aus dem französischen „jaser“ oder aus afrikanischen Sprachen) und vor allem aus der Umgangssprache, mit deutlichen sexuellen Assoziationen, die sich aus der Funktion des Jazz als Tanzmusik genährt haben mögen. Als musikalischer Terminus ist „Jazz“ erstmals zwischen 1913 und 1915 belegt und hat sich spätestens 1917 mit dem populären Erfolg der „Original Dixieland Jazz [Jass] Band“ etabliert (Zusammenfassung der etymologischen Wurzeln bei Alan P. Merriam & Fradley H. Garner: Jazz – the Word, in: Ethnomusicology, 12 (1968), S. 373-396; Jürgen Hunkemöller: Jazz, in: Handbuch der musikalischen Terminologie, hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht, 1976). Als Gattungsbegriff wird das Wort von Musikern zum Teil dezidiert befürwortet (z.B. Jelly Roll Morton) oder wegen seiner musikalischen Eingrenzung abgelehnt (z.B. Duke Ellington, Miles Davis). Trotz verschiedener Versuche, Ersatzbegriffe zu etablieren oder beispielsweise einzelne Stilbegriffe wie „Swing“ oder „Bebop“ in Opposition zum Terminus „Jazz“ zu stellen, hat sich der Begriff „Jazz“ als übergreifender Gattungsname erhalten. …[mehr]
2. Vorformen des Jazz
Der Jazz hat sich sich aus verschiedenen Formen afro-amerikanischer Volksmusik entwickelt. Deren Wurzeln sind sowohl in Afrika als auch in Europa zu finden. Die aus Afrika verschleppten Sklaven brachten eigene Kulturformen und Rituale mit, die sie auch in der Neuen Welt beibehielten. Je nachdem, wieweit solche Kulturtraditionen von Sklavenbesitzern unterdrückt wurden, können bis ins 20. Jahrhundert hinein direkte Traditionsstränge von Afrika nach Amerika nachgewiesen werden (vgl. Dauer 1985, Kubik 1999). Die afrikanische Kultur ist eine orale Kultur. Entsprechend sind ihre in Amerika erhaltenen Traditionen oraler Natur: Überreste afrikanischer Kultur finden sich im Geschichtenerzählen, im Tanz und in der Musik: in Liedern, Feldgesängen, Jodelrufen u.ä. …[mehr]
Die erzwungene Entfremdung afrikanischer Sklaven und ihrer bereits in Amerika geborenen Kinder von ihrer alten Kultur, aber auch die Tatsache, daß der Sklavenhandel Menschen verschiedenster afrikanischer Kulturen zusammenbrachte, machte sich in einem Verlust kultureller Identität bemerkbar. Um in der neuen Umgebung zu überleben, mußte eine Akkulturation der Schwarzen an das weiße, also europäische Sozialgefüge, an Gesellschaftsnormen und -anschauungen, an weiße Wertvorstellungen stattfinden. In der Sprache ist dieses Moment der Akkulturation meist in Nuancen erkennbar. Die Sklaven wurden teils durch Regeln, teils durch die Notwendigkeiten des Alltags gezwungen, ihre alten Sprachen aufzugeben. Die neue fremde Sprache – das Englische – aber entstammte einer anderen Gesellschaftsform. Viele für afrikanische Kulturen wichtige Dinge ließen sich in ihr nicht ausdrücken. Mit der Zeit entwickelte sich innerhalb der afro-amerikanischen Sprache ein Nuancenreichtum, der solche Defizite auszugleichen trachtete. Da gibt es zum einen typische Flexionen, die über die Stufe eines „Dialektes“ hinausgehen, d.h. bedeutungstragend sind. Es gibt zum zweiten Umdeutungen englischer Worte in einer Art „double entendre“. Solch eine Sprache war als „Geheimsprache“ im Umbruch zum Ende der Sklaverei recht nützlich, wurde aber nicht konkret hierfür entwickelt, sondern entstammt dem Bedürfnis der Afro-Amerikaner nach einem genuinen Ausdruck ihrer Gefühle, wie er in der angenommenen Sprache nicht möglich war. …[mehr]
Zu den frühesten Beispielen einer ausgeprägt afro-amerikanischen Musik im 19. Jahrhundert zählen Spirituals, Work Songs und Field Hollers. Vor allem in den Spirituals findet man dabei sowohl Elemente aus europäischer Musik (Hymnen) als auch solche afro-amerikanischer Provenienz (spezielle Tonbeugung, Vortragsart). Als deutlichste Beziehung zur afrikanischen Musik weisen die meisten afro-amerikanischen Musizierformen des 19. Jahrhunderts die Aufteilung in Vorsänger und Chor, Prediger und Gemeinde (congregation) auf – entsprechend dem afrikanischen master drummer und den untergeordneten Trommlern, und entsprechend dem call and response im Blues und im späteren Jazz. Neben den geistlichen und Arbeitsgesängen findet sich im 19. Jahrhundert eine ausgeprägte Tanzmusik der amerikanischen Schwarzen, die sich oft an europäischen Volksmusikformen orientiert (z.B. am irischen jig, am schottischen reel oder an der französischen quadrille, die ihrerseits in den amerikanischen square dance Eingang findet). …[mehr]
Auch in der Kunstmusik taten sich Afro-Amerikaner hervor. In etlichen Berichten über umherreisende Klaviervirtuosen des 19. Jahrhunderts – z.B. Thomas Greene Bethune („Blind Tom“) – wird über deren Fähigkeit zur spontanen Improvisation über gegebene Themen berichtet. …[mehr]
3. Frühe Stilarten (New-Orleans-Stil bis Swing)
Die Geschichtschreibung einer improvisierten Musik ist auf die Dokumentation musikalischer Ereignisse angewiesen, will sie sich nicht in Legenden erschöpfen. Die Jazzgeschichtsschreibung ist ohne das Medium der Schallplatte nicht denkbar. Die Legenden um den Trompeter Buddy Bolden (1877-1931) beispielsweise beleuchten die Sozialgeschichte des frühen Jazz und die Stellung eines schwarzen Musikers zu Beginn dieses Jahrhunderts. Seine Musik selbst allerdings ist für den Historiker verloren, da er in eine Nervenanstalt eingewiesen wurde, bevor Schallplattenaufnahmen allgemein üblich waren (Marquis 1978). Das historische Wissen um die Marschmusik, die Salon- und Ragtimeorchester aus dem New Orleans zum Anfang dieses Jahrhunderts nährt sich einzig aus Notenmaterial und niedergeschriebenen Arrangements sowie Klangbeispielen aus späteren Jahren. Eine Marschkapellen-Tradition lebt noch heute am Mississippi-Delta fort, und viele der Hymnen, Stomps und Rags, die nach der Jahrhundertwende gespielt wurden, sind nach wie vor mit modernen Anklängen bei Umzügen zu hören. …[mehr]
Die Stilbezeichnungen „New Orleans Jazz“ oder „Dixieland“ sind auswechselbare Termini. In der Literatur werden sie meist durch die Rassenzugehörigkeit der betreffenden Musiker unterschieden: New-Orleans-Jazz ist nach dieser Definition eine schwarze, Dixieland eine weiße Musik. Durch das Revival des frühen Jazz in den 40er Jahren wird eine solche Unterscheidung noch verstärkt: New-Orleans-Kapellen orientieren sich nun an den Aufnahmen von King Oliver’s Creole Jazz Band, Louis Armstrong’s Hot Five und Hot Seven oder Jelly Roll Morton’s Red Hot Peppers. Dixielandbands eifern weißen Musikern wie der Gruppe um den Gitarristen Eddie Condon (1905-1973) nach. Tatsächlich aber können selbst Revival-Bands der 40er und 50er Jahre nicht ausschließlich einem Stillager zugeordnet werden: Die Band des Posaunisten Turk Murphy (1915-1987) beispielsweise spielte sowohl kommerziellen Dixieland-Jazz als auch Transkriptionen originärer Oliver- oder Morton-Arrangements. …[mehr]
Ein weiterer Stilbegriff für die 20er Jahre bringt noch mehr Verwirrung: Die Musik einiger junger weißer Chicagoer Musiker jener Zeit, die dem Spielideal Louis Armstrongs nacheiferten, wird allgemein als „Chicago-Stil“ bezeichnet. New Yorker Musiker um den Trompeter Red Nichols (1905-1965) und den Posaunisten Miff Mole (1898-1961) wiederum orientieren sich stark an der Spielhaltung weißer Musiker wie Bix Beiderbecke (1903-1931) und Frankie Trumbauer (1901-1956). Ordnet man die genannten Stilkategorien einzelnen Musikern oder Bands zu, so lassen sich zwar tatsächlich Stilunterschiede festmachen, die allerdings meist mehr über den Personal- oder Gruppenstil der betreffenden Beispiele aussagen als über eine individuelle Stilgattung im Bereich des Jazz. …[mehr]
Der Jazz entwickelte sich in New Orleans aus einer langen Tradition afro-amerikanischen Musizierens heraus. Neben Überlieferungen afrikanischer Musik ist das lebendige musikalische Leben im New Orleans des 19. Jahrhunderts für die Entstehung des Jazz verantwortlich. New Orleans besaß das erste Opernhaus der Vereinigten Staaten, Sinfonieorchester und Chorvereine. …[mehr]
Die Geschichtschreibung einer improvisierten Musik ist auf die Dokumentation musikalischer Ereignisse angewiesen, will sie sich nicht in Legenden erschöpfen. Die Jazzgeschichtsschreibung ist ohne das Medium der Schallplatte nicht denkbar. Die Legenden um den Trompeter Buddy Bolden (1877-1931) beispielsweise beleuchten die Sozialgeschichte des frühen Jazz und die Stellung eines schwarzen Musikers zu Beginn dieses Jahrhunderts. Seine Musik selbst allerdings ist für den Historiker verloren, da er in eine Nervenanstalt eingewiesen wurde, bevor Schallplattenaufnahmen allgemein üblich waren (Marquis 1978). Das historische Wissen um die Marschmusik, die Salon- und Ragtimeorchester aus dem New Orleans zum Anfang dieses Jahrhunderts nährt sich einzig aus Notenmaterial und niedergeschriebenen Arrangements sowie Klangbeispielen aus späteren Jahren. Eine Marschkapellen-Tradition lebt noch heute am Mississippi-Delta fort, und viele der Hymnen, Stomps und Rags, die nach der Jahrhundertwende gespielt wurden, sind nach wie vor mit modernen Anklängen bei Umzügen zu hören. …[mehr]
Die Stilbezeichnungen „New Orleans Jazz“ oder „Dixieland“ sind auswechselbare Termini. In der Literatur werden sie meist durch die Rassenzugehörigkeit der betreffenden Musiker unterschieden: New-Orleans-Jazz ist nach dieser Definition eine schwarze, Dixieland eine weiße Musik. Durch das Revival des frühen Jazz in den 40er Jahren wird eine solche Unterscheidung noch verstärkt: New-Orleans-Kapellen orientieren sich nun an den Aufnahmen von King Oliver’s Creole Jazz Band, Louis Armstrong’s Hot Five und Hot Seven oder Jelly Roll Morton’s Red Hot Peppers. Dixielandbands eifern weißen Musikern wie der Gruppe um den Gitarristen Eddie Condon (1905-1973) nach. Tatsächlich aber können selbst Revival-Bands der 40er und 50er Jahre nicht ausschließlich einem Stillager zugeordnet werden: Die Band des Posaunisten Turk Murphy (1915-1987) beispielsweise spielte sowohl kommerziellen Dixieland-Jazz als auch Transkriptionen originärer Oliver- oder Morton-Arrangements. …[mehr]
Ein weiterer Stilbegriff für die 20er Jahre bringt noch mehr Verwirrung: Die Musik einiger junger weißer Chicagoer Musiker jener Zeit, die dem Spielideal Louis Armstrongs nacheiferten, wird allgemein als „Chicago-Stil“ bezeichnet. New Yorker Musiker um den Trompeter Red Nichols (1905-1965) und den Posaunisten Miff Mole (1898-1961) wiederum orientieren sich stark an der Spielhaltung weißer Musiker wie Bix Beiderbecke (1903-1931) und Frankie Trumbauer (1901-1956). Ordnet man die genannten Stilkategorien einzelnen Musikern oder Bands zu, so lassen sich zwar tatsächlich Stilunterschiede festmachen, die allerdings meist mehr über den Personal- oder Gruppenstil der betreffenden Beispiele aussagen als über eine individuelle Stilgattung im Bereich des Jazz. …[mehr]
Der Jazz entwickelte sich in New Orleans aus einer langen Tradition afro-amerikanischen Musizierens heraus. Neben Überlieferungen afrikanischer Musik ist das lebendige musikalische Leben im New Orleans des 19. Jahrhunderts für die Entstehung des Jazz verantwortlich. New Orleans besaß das erste Opernhaus der Vereinigten Staaten, Sinfonieorchester und Chorvereine. …[mehr]
4. Moderne Stilarten (ab Bebop)
In der oft legendenreichen Jazzgeschichtsschreibung wird berichtet, wie einzelne schwarze Musiker in den großen Swingorchestern mit der durcharrangierten und oft seichten Musik unzufrieden wurden, die sie für Tanzveranstaltungen zu spielen hatten. Man traf sich zwar immer wieder zu spontanen Jam Sessions, in denen Improvisationschorusse an Improvisationschorusse gereiht wurden, doch der tägliche Broterwerb war für kreative Musiker eher langweilig. Die schwarzen Musiker wurden es zudem leid – so die Legende weiter –, daß Weiße immer und überall einstiegen und letztlich das große Geld mit einer ursprünglich schwarzen Musik machten – es war Benny Goodman und kein schwarzer Musiker, der von den Medien in den 30er Jahren zum „King of Swing“ erklärt wurde. Junge schwarze Musiker arbeiteten deshalb komplexere Themen und schwierigere Harmonieprogressionen aus, angeblich, um den Weißen das „Einsteigen“ zu erschweren. Dies sei die Basis der ersten „Revolution“ im Jazz gewesen: des Bebop. Tatsächlich ist die Entwicklungslinie vom Swing zum Bebop fließend. In den kleinen Besetzungen des Swing wurde bereits mit neuen Themen, komplexeren harmonischen Fortschreitungen oder neuen Funktionszuordnungen der einzelnen Instrumentengruppen experimentiert. Junge Orchestermusiker wie Dizzy Gillespie im Orchester Cab Calloways, Charlie Parker in der Band Jay McShanns oder Bud Powell im Orchester Cootie Williams‘ entdeckten, daß sie in ihren Versuchen, die musikalischen Wurzeln ihrer Musik zu erweitern, ähnliche Wege gingen. Ein Aufnahmebann für die Mitglieder der American Federation of Musicians von 31. Juli 1942 bis zum 11. November 1944 führte allerdings dazu, daß die Experimente der jungen Musiker in keinen Schallplattenproduktionen dokumentiert sind. Die ersten Einspielungen des Bebop nach dem Aufnahmebann wirkten dementsprechend umso „revolutionärer“, als das Publikum nicht durch eine allmähliche Vermittlung die musikalische Entwicklung nachvollzogen hatte. Ohne Zweifel ist eines der auslösenden Momente für die Entstehung des neuen Stils tatsächlich die Unzufriedenheit vieler junger Musiker in den großen Swingorchestern gewesen, in denen sie im Orchestersatz nur ihre Stimme spielen und höchst selten, wenn überhaupt, solistisch hervortreten konnten. Schließlich waren viele Musiker jener Jahre gut ausgebildet, hatten die Ambition, eine ernsthafte, d.h. nicht nur kommerzielle, sondern auch intellektuell zufriedenstellende Musik zu spielen. Auf der anderen Seite spielten auch Marktfaktoren bei der Schaffung des neuen Stils in den 40er Jahren eine Rolle, erfüllte auch der Bebop eine Entertainment-Funktion, vielleicht die einer mehr intellektuellen Unterhaltung. …[mehr]
Der neue Stil legt mehr Wert auf Improvisation als auf Komposition oder Arrangement. Die Themengrundlagen sind dieselben Standards der Swingära. Nur sind deren Harmonieprogressionen nun mit neuen melodischen Themen und einem neuen Namen versehen. Als Harmoniegrundlage dienen beispielsweise How High the Moon (Bebop-Kontrafakt: Ornithology; vgl. Notenbeispiel 8), Indiana (Bebop-Kontrafakt: Donna Lee) oder What Is This Thing Called Love (Bebop-Kontrafakt: Hot House). Am beliebtesten aber sind der Blues und die changes über George Gershwins I Got Rhythm. Die neuen Themen sind schnell und komplex und werden meist im Unisono der Melodiegruppe zu Beginn und Schluß der Interpretationen vorgetragen. …[mehr]
Der Bebop beinhaltete ein Element des Experimentellen. Die Musiker setzten sich auch außerhalb der Jam Sessions zusammen und diskutierten musikalische Probleme. Einige experimentelle Orchester arbeiteten in jenen Jahren mit erweiterten Formmodellen, die über die im Jazz übliche Chorusreihung hinausgehen. An vorderster Front dieser Experimente steht der Pianist und Orchesterleiter Stan Kenton (1911-1979), der seine Musik als „progressive jazz“ beschrieb. In den vergleichbaren Bands von Boyd Raeburn (1913-1966) und Claude Thornhill (1909-1965) saßen bekannte Bebop- und spätere Cool-Jazz-Musiker. Für Thornhill arrangierten unter anderem Gil Evans (1912-1988) und Gerry Mulligan (geb. 1927). Evans und Mulligan sowie eine Gruppe anderer junger Musiker trafen sich Ende der 40er Jahre regelmäßig in Evans‘ New Yorker Appartement. Sie wollten das Klangideal und die harmonische Klangfarbe des Thornhill-Orchesters mit für den Jazz unüblichen Instrumentierungen auf die kleinstmögliche Besetzung transferieren. Das Ergebnis war das Miles Davis Nonet (Capitol Band). Die Aufnahmen dieses Ensembles von 1949 und 1950 wurden später unter dem Titel „The Birth of the Cool“ veröffentlicht. Sie zählen zu den Anfängen einer Musikrichtung, die in den 50er Jahren als „Alternative“ zum Bebop rechnete: dem Cool Jazz. …[mehr]
Der Terminus „cool“ bezieht sich auf eine Grundhaltung des Musizierens. Im Gegensatz zum Bebop ist das Spielideal des Cool Jazz eher introvertiert. Komposition wie Improvisation gehorchen einem intellektuellen Kunstverständnis. Die meisten Cool-Musiker hatten Universitäts- und Konservatoriums-Studien hinter sich. Sie sahen ihre Musik in erster Linie als Kunst-, d.h. als Hörmusik. Sie drängten den funktionellen Aspekt dieser Musik noch weiter zurück als im Bebop. Begriffe wie „understatement“, „relaxed“, Lyrik, Verhaltenheit charakterisieren das Spielideal des Cool Jazz. „Cool“ ist dabei natürlich auch ein terminologischer Gegensatz zum „hot“ früherer Stile. …[mehr]
Cool-Jazz-Musiker verwenden ihr „cool“-Spielideal auf allen Ebenen. Trompeter und Saxophonisten spielen mit möglichst wenig Vibrato, der Ton wirkt „reiner“ als in Jazzstilen, in denen sich die Intonation an vokalen Stimmidealen orientiert. Die Besetzung spiegelt oft jene der Miles Davis‘ Capitol Band wider, aber auch den „progressive jazz“ Stan Kentons. Bislang im Jazz unübliche Instrumente finden Eingang sowohl in die Orchestration komponierter Partien als auch in die Sologestaltung: Neben den konventionellen Jazzinstrumenten sind auch Oboen, Fagotte, Flügelhörner, Hörner, Tuben, Harfen u.ä. zu hören. Die Arrangements reichen von mehr oder weniger verschleierten Chorusreihungen bis hin zu langen, mehrteiligen Kompositionen, welche sich teilweise an Formmodellen aus der europäischen Musikgeschichte orientieren – beispielweise an Fuge, Konzert, Sonate. Der Cool Jazz wird in der Jazzgeschichtsschreibung gern als „weiße“ Musik beschrieben, obwohl „The Birth of the Cool“ von Miles Davis, einem schwarzen Musiker eingespielt wurde. Tatsächlich aber rechtfertigen besonders die Ausformungen des Cool Jazz von der amerikanischen Westküste (West Coast Jazz) die Einschätzung, daß diese Musik in erster Linie von weißen Musikern gepflegt wurde. …[mehr]
Die Beschäftigung mit kompositorischen Möglichkeiten innerhalb der Jazzsprache führte in den 50er Jahren zum Third Stream. Der Terminus selbst wurde vom Komponisten Gunther Schuller (geb. 1925) geprägt und bezeichnet eine bewußte Vermittlung zwischen Traditionen europäischer und afro-amerikanischer Musik bzw. in seinem späteren Verständnis allgemein zwischen unterschiedlichen Musiktraditionen und -kulturen. Das Ergebnis soll keine unabhängige „neue“ Musik sein, sondern …[mehr]
Neben Cool Jazz und Third Stream galt das Interesse vieler (vor allem schwarzer) Musiker in den 50er Jahren dem Hard Bop, einer in der Tradition des Bebop verwurzelten Musik mit stark antreibender Rhythmik. Die Aufnahmen der Bands von Art Blakey (1919-1990) oder Horace Silver (geb. 1928) verzeichnen dabei eine weitere Rückwendung des Jazz auf roots, die teilweise im Jazz, teilweise in Parallelströmungen des Jazz (Blues, Gospel), teilweise auch außerhalb des Jazz (afrikanische Musik) liegen. Miles Davis (1926-1991) und John Coltrane (1926-1967) bilden innerhalb dieser Stilsprache in den 50er Jahren ihre modale Improvi-sationstechnik als folgerichtigen Versuch aus, harmonische Errungenschaften des Bebop weiterzuentwickeln. …[mehr]
4.1 Free Jazz
In den späten 50er Jahren entwickelten einige Avantgarde-Musiker in New York, aber auch in anderen Zentren der USA neue Spielkonzepte, die sowohl improvisatorische als auch kompositorische Bereiche einschlossen. Der neue Stil der 60er Jahre wurde nach dem Plattentitel einer LP von Ornette Coleman „Free Jazz“ getauft. Der Terminus selbst ist nicht unproblematisch, denn die durch ihn implizierte Freiheit in bezug auf traditionelle Spielhaltungen des Jazz besitzt diese Musik nur bedingt. Zwar gibt es Momente „aleatorischer“ Improvisation, doch die ursprünglichen Ideen des Free Jazz Cecil Taylors oder Ornette Colemans orientierten sich sehr wohl noch an den Traditionen des Jazz. Taylor kannte die Musik von Ellington, und Ornette Colemans Spiel wurde beispielsweise von einem Musiker wie John Lewis, der einst als Begleiter Charlie Parkers fungiert hatte, als eine Erweiterung des Parkerschen Musikideals aufgefaßt. Der frühe Free Jazz orientiert sich auf verschiedenen Ebenen an melodischen, harmonischen und rhythmischen Grundmustern der Jazztradition. Die Besetzungen entsprechen oft noch der typischen Bebop-Instrumentation. Coleman verzichtet meist auf das Klavier, um sich von dessen harmonischer Dominanz zu lösen. Bei Taylor und anderen werden Baß und Schlagzeug zu gleichberechtigt improvisierenden Dialogpartnern. Das Stimmideal des neuen Jazz ist freier als beispielsweise das des vorweggegangenen Cool Jazz. Klangideale, die bereits die Hot-Phrasierung der 20er Jahre bestimmten, werden weiterentwickelt und auch Geräusche in den musikalischen Ablauf einbezogen. …[mehr]
Auch Komposition ist dem Free Jazz durchaus nicht fremd. Cecil Taylor beispielsweise fertigt blockhafte, sehr komplexe Kompositionen, in deren Realisationen man den Unterschied zwischen Improvisations- und oral vermittelten Kompositionspartien oft nicht mehr unterscheiden kann. Ornette Colemans Kompositionen orientieren sich vielfach an der konventionellen Bebop-Praxis der Themenrahmung im Unisono der Frontinstrumente – wenn auch seine Ensemblepassagen meist wie ein etwas schiefes Unisono klingen, in dem jedem der Melodieträger ein leicht verändertes rhythmisches Konzept des Themas vorschwebt. Neben dem melodie-orientierten Free Jazz Ornette Colemans und der kommunikations-orientierten Musik Cecil Taylors steht John Coltrane als einer der einflußreichsten Vertreter des neuen Jazz. Coltranes Improvisationen basieren musikalisch auf dem, was der Saxophonist mit dem Miles-Davis-Quintet entwickelt hatte: auf modal angelegten Improvisationsstrukturen, die Coltrane genauso wie konventionelle Balladen oder andere changes-Kompositionen mit seinen Klangflächen, den sogenannten „sheets of sound“ füllt. Dies sind unregel-mäßige Tongruppen, in denen der Saxophonist Akkorde aufbricht, so daß er aus seinem Instrument einen akkordischen Klangteppich auszubreiten scheint. In seinen frühen Bands entwickelte Coltrane diese Technik zu einer Meisterschaft, die erklärt, warum er bereits seit den frühen 60er Jahren von — durchaus nicht nur jüngeren — Kollegen als Meister und Erneuerer seines Instruments betrachtet wurde. Zu den Coltrane verbundenen Musikern der 60er Jahre gehören beispielsweise die Saxophonisten Archie Shepp (geb. 1937) und Pharoah Sanders (geb. 1940). …[mehr]
4.2 Fusion
In den 60er Jahren war die Entwicklung des Jazz zu einem Höhepunkt, ja scheinbar zu einem Endpunkt gelangt. Der Jazz hatte sich konsequent von einer im Volkstum verwurzelten Musik hin zu einer Kunstmusik entwickelt. Dabei nahm vom New Orleans Jazz zum Swing, vom Swing zum Bebop, vom Bebop zum Free Jazz die Komplexität der melodischen, rhythmischen und harmonischen Ebenen zu, wobei schließlich sogar einige der Grundfesten solcher Parameter aufgelöst wurden. Darüber hinaus experimentierten Musiker immer mehr mit dem formalen Moment, versuchten, neue Formen zu schaffen oder aber sich von formalen Konventionen zu lösen, die den Jazz zuvor bestimmt hatten – vom Blues beispielsweise oder von den üblichen Songformen. Der Third Stream, die modale Improvisation oder der Free Jazz in all seinen Ausformungen waren unter anderem Versuche einer Lösung dieses Formproblems. …[mehr]
Eine Gegenbewegung musikalischer wie ökonomischer Art ist die Fusion der 70er Jahre, in der Musiker einerseits versuchten, der scheinbaren Komplexität des Free Jazz simple Formen entgegenzustellen, andererseits statt des elitären Publikums der 60er Jahre wieder ein Massenpublikum für den Jazz zu interessieren. …[mehr]
Den beginnenden Erfolg der Fusion markiert Miles Davis‘ LP „Bitches Brew“ von 1969. Neben Davis strebten damals auch Musiker von anderen Seiten einer solchen Fusion zwischen Jazz und Popularmusik zu. Frank Zappa (1940-1993) beispielsweise ließ in seinen Personalstil Elemente aus dem aktuellen Jazz wie aus der zeitgenössischen komponierten Musik einfließen. Der Gitarrist Jimi Hendrix (1942-1970) war nicht nur ein Popidol, sondern auch bei vielen Jazzmusikern wegen seiner Improvisationsgabe hochangesehen. …[mehr]
Zuvor war der Jazz – abgesehen von der elektrisch verstärkten Gitarre und einigen Ausflügen in die Rock- und Popinstrumentalistik – eine akustische Musik gewesen. Das änderte sich bereits 1968, als in der Miles Davis Band außer dem Trompeter, einem Saxophonisten und einem Schlagzeuger nur elektrische Instrumente spielten: drei Keyboards, E-Baß und E-Gitarre. Die Fusion-Szene der 70er Jahre wurde von Musikern angeführt, die in Davis‘ Band von 1968 mitgewirkt hatten: Herbie Hancock (geb. 1940), der bis in die 90er Jahre hinein neben akustischen Konzerten immer auch auf den populären Markt gerichtete Fusion-Musik machte; Chick Corea (geb. 1941), dessen Band Return to Forever zu einem der wichtigsten Ensembles der 70er Jahre wurde; John McLaughlin (geb. 1942) mit seinem Mahavishnu-Orchestra; Joe Zawinul (geb. 1932), der zusammen mit Davis‘ Saxophonisten Wayne Shorter (geb. 1933) die erfolgreiche Gruppe Weather Report gründete. …[mehr]
Die in der Fusion zunehmende Lautstärke von Keyboards, E-Bässen und E-Gitarren führte dazu, daß auch Bläser und Schlagzeuger verstärkt wurden und die Lautstärke bei Konzerten einen erheblich höheren Pegel erreichte als zuvor. Nicht zuletzt diese Tatsache unterstützte das negative Urteil der Jazzpuristen gegen die Fusion. Miles Davis wurde für viele – und zwar auch für viele seiner vorherigen Anhänger – zum Totengräber des Jazz. Sein Bekenntnis, es sei ihm wichtig, mit seiner Musik Geld zu verdienen, störte zudem die über Jahrzehnte gewachsene Ästhetik vom Jazz als einer Kunst, die nicht nach Geld, sondern nur nach Erfüllung ihres Kunstzweckes trachte. Für viele Jazzmusiker spielten ökonomische Gründe bei ihrer Entscheidung eine wichtige Rolle, sich dem Jazzrock intensiver zuzuwenden. Das Jazzgeschäft lief schlecht, und die Verdienstmöglichkeiten in der populären Musik betrugen ein Vielfaches dessen, was sich ein Jazzmusiker erträumen konnte. …[mehr]
Die 80er Jahre Der Jazz geriet in den 70er Jahren in eine deutliche Krise. In den 60ern war die Musik in der oben skizzierten Entwicklung einer immer stärker werdenden Komplexität an einen Zielpunkt gelangt, nach dem eine weitere Entwicklung unmöglich schien. Mit der Fusion und einer akustisch-romantischen Spielhaltung in den 70er Jahren schien eine vollkommene Abkehr von jenen ästhetischen Idealen gegriffen zu haben, die zuvor die Avantgarde dieser Musik ausmachten. Daneben aber lebte auch die Avantgarde der 60er Jahre weiter fort. Der Free Jazz wurde nicht mehr so sehr in Konzertsälen aufgeführt als vielmehr in kleinen Lokalen, oft in musikereigenen Örtlichkeiten, ja sogar in Musikerwohnungen, den sogenannten Lofts, die seit den 60er Jahren in New York als Künstlerateliers oder -wohnungen genutzt wurden. Die Loft Scene der 70er Jahre war das Gegenmodell zur Fusion oder zum erfolgreichen meditativ-romantischen Jazz derselben Zeit. Sie war zugleich der Nährboden jenes Eklektizismus, der Merkmal des Jazz in den 80er Jahren werden sollte. …[mehr]
Im Laufe der 80er Jahre wurden viele der einst relativ preiswerten Wohn- und Künstlerlofts in schicke Apartments, Büros oder Geschäftsräume umgewandelt. Bereits Mitte der 80er Jahre gab es keinen nennenswerten Musikloft mehr in Manhattan. Die Avantgarde-Musiker fanden ihre hauptsächlichen Spielmöglichkeiten nun mehr als zuvor vor allem in Europa. Innerhalb Manhattans blieb eigentlich nur noch die Knitting Factory übrig, ein kleiner Club, in dem neben Avantgarde-Jazzern auch die Avantgarde-Rockszene, Folksänger oder Klezmer-Bands eine Heimstatt fanden. …[mehr]
Nicht nur der erstarkende Markt für einen eher der Tradition zugewandten Jazz führte in den 80er Jahren dazu, daß sich mehr und mehr Musiker in ihrem Schaffen mit der Jazzgeschichte auseinandersetzten. Auch die vermehrte Behandlung der Jazzgeschichte im Schul- und Musikunterricht der Vereinigten Staaten, die vielen Departments for Black Studies an den Universitäten brachten ein erneutes Interesse an der Jazzgeschichte hervor. Seit Mitte der 80er Jahre gibt es etliche professionelle sogenannte Repertory Orchestras, die Originalarrangements oder gar Transkriptionen von Aufnahmen der Jazzgeschichte vor vollen Häusern aufführen. Ein Vorläufer solcher Repertory Orchestras war das in den 70er Jahren aktive New York Jazz Repertory Orchestra unter Leitung des Pianisten Dick Hyman (geb. 1927). In den 80er Jahren arbeiteten das American Jazz Orchestra (Leitung: John Lewis) oder das Lincoln Center Jazz Orchestra (Leitung: Wynton Marsalis) mit ähnlichem Konzept. Die Idee hinter den Konzerten solcher Repertory Orchestras ist in erster Linie eine pädagogische: Die Hörer sollen Gelegenheit erhalten, historische Meisterwerke der Jazzgeschichte nicht nur mittels der Schallplatte, sondern live zu erleben. …[mehr]
Verweise auf Stilmomente aus Stride, New Orleans, Bebop, Hard Bop oder auf einzelne Persönlichkeiten der Jazzgeschichte sind in den eklektischen Stilrichtungen sowohl der Neo-Klassizisten als auch der Avantgardisten der 80er und 90er Jahre zu finden. Solch eine Auseinandersetzung mit der eigenen musikalischen Tradition ist nicht neu – schon Charles Mingus legte beispielsweise Wert darauf, daß seine Pianisten sämtliche Klavierstilistiken des Jazz beherrschten. Avantgardemusiker beziehen sich auf die Jazztradition allerdings meist mit einer ästhetischen Distanz, wie sie beispielsweise in den musikalischen Collagen des New Yorker Saxophonisten John Zorn (geb. 1953) oder in den Kompositionen des Saxophonisten Henry Threadgill festzustellen ist, der sowohl auf die New-Orleans-Marschtradition als auch auf die psychedelische Pop-Musik der 60er Jahre zurückgreift. …[mehr]
5. Jazz in Europa
Die Rezeption des amerikanischen Jazz in Europa läßt sich in zwei Phasen einteilen: die der Imitation und die der Emanzipation des europäischen vom amerikanischen Jazz. Die Emanzipationsphase ist etwa in die späten 50er und frühen 60er Jahre einzuordnen. Zuvor hatte eigentlich nur der belgische Gitarrist Django Reinhardt (1910-1953) eine eigenständige Stilistik entwickelt, die in der Folge nicht nur in Europa, sondern selbst im Ursprungsland des Jazz, den USA, von Einfluß war. …[mehr]
Bereits in den frühen 20er Jahren kam der der Jazz als Modemusik nach Europa. Europäische Musiker, aber auch europäische Komponisten kannten ihn in der Hauptsache aus Notenveröffentlichungen und frühen Anleitungsbüchern, kaum aus eigener Hörerfahrung. Amerikanische Bands waren nur selten und wenn, dann höchstens in den europäischen Metropolen zu hören. Die Original Dixieland Jazz Band, das Vaudeville-Duo Sissle and Blake sowie Will Marion Cooks Southern Syncopated Orchestra traten 1919 in Europa auf. In den 20er Jahren kam im Gefolge der Sängerin Josephine Baker das Orchester des Pianisten Sam Wooding (1895-1985) nach Europa, in dem Musiker wie Garvin Bushell (1902-1991), Tommy Ladnier (1900-1939) und Doc Cheatham (geb. 1905) zu hören waren. Woodings Band bereiste Metropolen wie London, Paris, Barcelona, Hamburg und Berlin und unternahm 1926 gar eine Reise in die junge Sowjetunion. Neben Wooding sind die Jazz Kings des amerikanischen Schlagzeugers Louis Mitchell (1885-1957) zu nennen, die Anfang bis Mitte der 20er Jahre Pariser Musikern und Komponisten ein Bild von dem gaben, was amerikanischer Jazz sein sollte. Nicht alle amerikanischen Bands aber, die Europa bereisten, spielten wirklich Jazz. Oft handelte es sich um die Tanzmusik des Tages, oft auch um den populären, kommerziell erfolgreichen Jazz im Stile eines Paul Whiteman – der selbst 1926 den alten Kontinent bereiste. Erst 1932 waren mit Louis Armstrong und 1933 mit Duke Ellington die ersten namhaften und stilbildenden Jazzmusiker in Europa zu hören.[mehr]
Der Jazz der 20er Jahre war vor allem eine Modeerscheinung. Salonorchester wandten sich dem neuen Stil zu, weil die Tänzer dies verlangten; Komponisten sahen in Besetzung, Klangfarbe, Synkopen und Bluesharmonien des Jazz ein Abbild moderner Zeiten. Unter den Komponisten aus dem Bereich der E-Musik hatte nur Darius Milhaud auf einer New-York-Reise den originalen amerikanischen Jazz gehört. Seine Komposition La Creation du Monde (1923) wird daher nicht ohne Grund als wichtigstes den Jazz rezipierendes Werk zu Beginn dieses Jahrhunderts betrachtet. Auch die anderen Komponisten der Gruppe Les Six, Igor Strawinski, Paul Hindemith und benutzten für etliche ihrer Werke Jazzelemente. Ernst Krenek schrieb 1927 seine überaus erfolgreiche Oper Jonny spielt auf, die immer wieder als „Jazz-Oper“ tituliert wurde. Ein zentraler Satz des Librettos mag stellvertretend für die ästhetische Auffassung stehen, die viele Komponisten und Intellektuelle in den 20er Jahren gegenüber dem Jazz hegten: „Es kommt die neue Welt übers Meer gefahren mit Glanz und erbt das alte Europa durch den Tanz.“ Tatsächlich kannten europäische Komponisten – mit der erwähnten Ausnahme von Milhaud – den Jazz meist nicht aus eigener Hörerfahrung, sondern durch Notenpublikationen. Sie rezipierten in erster Linie die charakteristische Instrumentation mit Saxophon und Schlagzeug sowie bestimmte rhythmische und harmonische Besonderheiten wie Synkope und blue note, waren sich der wirklich zentralen Elemente des Jazz – und hier insbesondere der Improvisation – dagegen kaum bewußt (vgl. J. Bradford Robinson: Jazz Reception in Weimar Germany. In Search of a Shimmy Figure, in: Bryam Gilliam (Hg.): Music and Performance During the Weimar Republic, Cambridge 1994, S. 107-134).[mehr]